1 Familie Alfred Ascher (Mit Beitrag von Aschers Tochter Sonia)
Alfred Ascher, (geb.1910) gründete 1934 in Chemnitz am Markt ein Schuhgeschäft, “Der elegante Schuh”. Ein Jahr später heiratete er Edith, geborene Werner. Sie waren Juden. Nach der Kristallnacht, 9. November 1938, wurde das Geschäft schwer beschädigt und Alfred um fünf Uhr morgens von der Gestapo abgeholt und schliesslich mit etwa 200 Leidensgefährten in das KZ Buchenwald gebracht. (1a).
Verzweifelt erscheint Frau Edith Ascher bei Dr. Linse in der Handelskammer – dieser erreicht die temporäre Entlassung Alfreds aus dem KZ, weil seine Anwesenheit notwendig war für die von den Nazis angeordnete Schliessung jüdischer Geschäfte. Vereint erstanden dann die Eheleute Visa, um nach Belgien und den USA auszureisen. Sie schafften es, unter dramatischen Umständen im April 1939 nach Brüssel zu kommen und im Februar 1940 nach USA - kurz vor dem Einmarsch der Nazis in Belgien.
Endlich in Sicherheit in Manchester, New Hampshire, USA, beantragt Herr Ascher US Staatsbürgerschaft (1b) und Mitgliedschaft bei der Sozialversicherung (1c). Ein neues Geschäft wird gegründet und eine Tochter, Sonia, erblickt das Licht in der freien Welt.
Mit Hilfe der obigen öffentlichen Dokumente konnte ich 2007 Frau Sonia Ascher finden. Sie wusste keine Einzelheiten über Dr. Linses Rolle im Leben ihrer Eltern – diese hatten fast nie von der Katastrophe in Deutschland gesprochen.
Sie fand aber ein detailliertes Zeitungsinterview, das ihr Vater im Jahre 1963 für die Lokalzeitung, dem Manchester Union Leader (1a) zum Anlass der Erweiterung seines neuen Geschäftes gewährt hatte. Herr Ascher berichtet über sein schlimmes Schicksal in Deutschland und auch über die Hilfe, die Dr. Linse für ihn geleistet hatte. Aber noch mehr: Alfred Ascher wird zitiert :
“Fortunately, Linse was an avowed anti-Nazi”
(Zum Glück war Linse ein überzeugter Anti-Nazi).
Dieses Zitat ist doppelt wichtig, weil eigentlich in dem Interview keine Notwendigkeit bestand, Linses Einstellung zu betonen. Irgendwie muss Ascher aber beeindruckt gewesen sein, und es als wichtig empfunden haben. Zum anderen, warum hat Linse seine Gesinnung durchblicken lassen? Das war eigentlich auch nicht nötig. Wollte er zeigen, dass es in Deutschland auch anständige, vernünftige Menschen gab? Vielleicht wollte er einen Zeugen haben, der ihn bestimmt später nicht denunzieren würde. Nicht zu viele Leute durften von seiner anti-Nazi Einstellung wissen – das wäre sehr gefährlich gewesen.
Inzwischen sind Herr und Frau Ascher gestorben. Ein Nachruf (1d) und eine Zeittafel über ihre Geschichte sind abschliessend beigefuegt (1e).
Sie werden verstehen, dass Tochter Sonia Ascher und auch ich über all diese Erkenntnisse zu Tränen gerührt waren. Vielleicht, so meint sie, hätten es die Eltern ohne Linses Hilfe nicht geschafft. Ein ungeheuer bewegender Gedanke, der uns tief verbunden hat. Ich selbst, als Chemnitzer, DDR Flüchtling und Auswanderer kann mir Aschers Gefühl der Geborgenheit in den USA gut vorstellen. Vielleicht haben sie auch ein erstes Konzert in der Freiheit erlebt, wie von mir in (1f) nachempfunden.
1d Auszug vom Nachruf fuer Frau Edith Ascher
Mrs. Melnick was born Jan. 2, 1914, in Siegmar [-Schoenau, b. Chemnitz; Anm. PSeifert] Germany, daughter of the late Felix and Betty (Heide) Werner. She was a Holocaust survivor and immigrated to the United States in 1940, making her home in Manchester for many years. She later resided in Florida for several years.
She was the widow of Alfred Ascher, who died in 1983, and Sam Melnick, who died in 2002.
Mrs. Melnick was a successful businesswoman who co-owned Modern Appliances & Furniture in Manchester with her first husband for many years.
A devoted mother, grandmother and great-grandmother, Mrs. Melnick loved traveling and visiting casinos around the country. She was an accomplished bridge player who enjoyed knitting and ceramics, and followed the stock market.
Mrs. Melnick was a member of Temple Adath Yeshurun of Manchester for more than 60 years and devoted a lot of her life to the Hadassah.
Besides her husbands and parents, she was predeceased by two brothers, Heinz and Paul Werner.
Survivors include her daughter, Sonia C. Ascher of Hollis; a stepson, Jeffry Melnick of Los Angeles; three grandsons, Barry Sanel and his wife, Ava, of Carmel, N.Y., Nathan Sanel and his wife, Amy, of Penacook, and Matthew Sanel of Portland, Maine; and four great-grandchildren, Max, Isabel, Allison and Aaron Sanel.
1903 | 23. Aug. | Geburt Walter Erich Linse, Chemnitz |
1909 | 6. Dez. | Geburt Horst Bruno Lantzsch, Chemnitz, Eltern Bruno u. Helene Lantzsch . |
1910 | 21. Jan | Geburt Alfred Ascher, Berlin. Eltern Hermann Ascher, Clara (geb. Schachmann) |
1914 | 2. Jan. | Geburt Edith Werner, Chemnitz/Siegmar, Eltern Felix Werner, Betty (geb. Heide ?) |
1926 | Hermann Ascher (Vater von Alfred) stirbt | |
1930er | Anekdote (von Tochter Sonia Ascher): Alfred Ascher (gross, blond) und Horst Lantzsch (dunkelhaarig)gehen in eine Kneipe. Lantzsch darf nicht hinein - "sieht aus wie ein Jude". Ascher ist OK |
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1934 | Juli | Gründung des Geschäftes " Der Elegante Schuh", durch Alfred Ascher Chemnitz, am Markt, |
1935 | 7. Nov. | Hochzeit Alfred und Edith Ascher (geb. Werner) |
1938 | 8. Okt. | Clara Ascher (Mutter von Afred) stirbt |
1938 | 9. Nov. | Kristallnacht |
1938 | 10. Nov. | Alfred Ascher verhaftet,muss ins KZ Buchenwald. |
1939 | März | Entlassung aus KZ Buchenwald, mit Unterstützung von W. Linse. (1a, 3a) |
1939 | März? | Alfred und Edith Ascher fliehen nach Belgien |
An der Grenze aufgehalten. Visum nicht OK?. Durchgelassen durch Hilfe | ||
von Hadassa, H.Lantzsch und/oder W. Linse? | ||
1939 | 16. April | Temporäres Quartier 172 Rue du Viaduc, Brussels |
1939 | 16. April | Brief von A. Ascher an W. Linse,wegen Lebensunterhalt für Ascher's Eltern. |
1939 | 25. April | Handelskammer befürwortet Aschers Anliegen an das Gewerbeamt |
1939 | 17. Mai | Antwort von Linse, an Ascher, Brüssel. Das Geld sei auf Ascher's Konto bei der Commerzbank Chemnitz , weil Eltern den Empfang "nicht bestätigen konnten" Linse verschweigt, dass die Eltern schon gestorben waren |
1941: Reichfinanzamt beschlagnahmt Ascher Vermögen, auf Hinweis von noch neutralen USA über Ascher's Antrag auf US Staatsbürgerschaft | ||
1939 | 1. Sep. | Hitler Einmarsch in Polen |
1940 ? | Januar? | In Brüssel erhalten Aschers US Visum, Sponsorship, Hilfe durch Hadassah |
1940 | Januar | Einschiffung nach USA, in Antwerpen. Das Schiff: SS Westernland |
1940 | 3. Feb. | Ankunft in New York City |
1940 | 23. Feb. | Alfred Ascher stellt Antrag für US Sozialversicherung erste Adresse: R.F.D # 2, Manchester, NH Arbeitsstelle: Fleisher Shoe Company |
1940 | Mai | Hiltler Einmarsch in Belgien (Aschers sind in Sicherheit in USA) |
1940 | 4. Juni | Aschers beantragen US Staatsbürgerschaft in Manchester, NH |
1941 | 7. Dez. | Japan greift Pearl Harbor an. Kriegseintritt der USA. |
1942 | Geburt Tochter Sonia Ascher in Manchester, New Hampshire | |
1945 | 5. Mai | Ende des II.Weltkrieges, Europa. Amerikaner stehen bei Chemnitz |
1945 | Juni | Russen kommen nach Chemnitz. W. Linse bleibt bei Handelskammer. Leitet eine Entnazifizierungs-Kommission. |
1948 | 2. März | Fragebogen, Chemnitz, Linse ist NICHT Mitglied der NSDAP |
1949 | Walter und Helga Linse flüchten nach West Berlin- | |
1950 | W.Linse arbeitet für Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen | |
1950 | Horst B. Lantzsch, Frau und Tochter, aus Chemnitz, fliehen nach Bochum, W. Deutschland. Etwas später Auswanderung nach USA | |
1951 | Mitte Juni | Peter Seifert (15) besucht Linses in West Berlin, Gerichtsstr. 12 |
1951 | 5. August | Bruno Horst Lantzsch stellt Antrag für US Sozialversicherung "arbeitslos" |
1952 | 8. Juli | Gewaltsamer Überfall auf W. Linse und Entführung aus Westberlin |
1952 | 29. Okt. | Horst B. Lantzsch lebt jetzt mit Frau und Kind bei Aschers in 236 Walnut Street, Manchester, New Hampshire. Brief an Adenauer "…ich lebe heute mit meinem Freunde Ascher zusammen ...") und es wäre fuer uns die schönste Nachricht, wenn wir erfahren würden, dass Herr Dr. Linse wieder frei ist) |
1952 | 24. Nov. | Bundesminister fuer Gesamtdeutsche Fragen schreibt an den UfJ (Linse's Arbeitgeber in W-Berlin) mit Auszügen v. Lantzsch's Brief |
1953 | 15. Dez. | W. Linse wird in Moskau wegen Spionage geheim verurteilt und hingerichtet Niemand weiss von seinem Schicksal |
1963 | 6. Feb. | Artikel im Manchester Union Leader, massgebende Zeitung in Manchester NH: Interview mit Alfred Ascher, zum Anlass der Einweihung seines erweiterten Geschäftes. Herr Ascher berichtet von der Kristallnacht, KZ Buchenwald, seiner Flucht aus Deutschland und der HILFE von Dr. W. Linse. Ascher sagt aus: "Fortunately, Linse was an avowed Anti-Nazi." |
1978 | 7. Juli | Interview mit Horst Lantzsch. The Washington Star, |
1983 | Herr Afred Ascher stirbt in New Hampshire | |
2007 | 28. Jan. | Frau Edith Ascher Melnik stirbt |
1f Traum oder Wirklichkeit? (Nachempfunden)
Die Szene:
1940 oder 1941, bei Manchester, New Hampshire, USA.
Ein Konzert im Freien, ein sonniger, lauer Abend. Am Memorial Day, Independence Day oder war es Labor Day ? A und E aus Chemnitz sitzen dicht nebeneinander auf einer Wiese. Arme gegenseitig um die Schultern gelegt. Köpfe einander zugeneigt. Sie sind jung, um die dreissig.
Zuerst die Amerikanische Nationalhymne. Alle stehen auf, Blick auf die Fahne mit den dreizehn Streifen und achtundvierzig Sternen.... "Oh say can you see, through the dawn's early light.....und schliesslich das Ende .... Oh, long may it wave, over the land of the free... and the home of the brave." Sie kennen die Worte noch nicht, wohl aber die Melodie. Dann Beethoven, fünfte Symphonie, nur der erste Satz...
Sie wispern zueinander. Viele Pausen. Deutsch. Man erkennt ihren sächsischen Dialekt. Deutlich.
E Dass wir das jetzt hören dürfen.
... Pause
Hier, in Sicherheit.
A Und in Deutschland ist es verboten. So ein Unsinn. Ich darf gar nicht dran denken. Nach der Kristallnacht, November 38, Buchenwald ... es war die Hölle... die Schreie der Geprügelten... das Orchester musste spielen... ich höre es heute noch ... es war die Hölle...
A ... unser schönes, neues Schuhgeschäft am Markt ... alles kaputt ....
E Du musst es irgendwie begraben.
E Denk doch mal als Du mit dem Horst in diese Kneipe gehen wolltest - und der SA-Mann liess Dich hinein, nicht aber Horst: "Der sieht aus wie ein Jude" - obwohl er doch katholisch war, aber er hatte einen dunkleren Teint. Alles war so verrückt - nicht Deine Schuld ...
A Nur noch raus aus diesem Deutschland, oder gleich sterben. Alles was ich denken konnte. Nach dem KZ immer wieder zur Polizei, ... diese überheblichen Gestapo - Schnösel. Da ... man kam sich vor, wie Dreck.
.... Pause...
E Liebling, denk nicht dran.
E Es haben uns auch manche geholfen. Ohne die .... wer weiss ... Der Horst, der war ein richtiger Freund. Der hat zu uns gehalten, in der Not - er hätte es nicht zu tun brauchen... Weisst Du noch, die Fahrt an die Grenze... Er ist dabei geblieben... Ohne ihn, und den belgischen Anwalt ... Oh Gott... April , nur ein Jahr ists her.
... Pause... sie nimmt die Hände vor die Augen
E Und dieser Linse, bei der IHK, der wusste, wen man anrufen musste, und nach ein paar Tagen warst Du aus Buchenwald raus.
E Dann das mit dem Geld vom Sperrkonto. Wieder der Linse. Der wusste, wie man da ran konnte. Als Unterstützung für Deine Eltern. Auch ratenweise - da muss ich jetzt fast lachen. Und er wusste, dass sie beide schon tot waren ... hat es trotzdem befürwortet ... sehr riskant ... wenn das rausgekommen wäre...
A und er hat es uns zukommen lassen. Aufs Konto bei Commerzbank. Ja, dieser Linse. Du hast schon recht ... Niemand in Brüssel hatte Geld. So viele Flüchtlinge. Borgen. Betteln. Vertrösten. Bitten. Fast ein ganzes Jahr.
A Mit dem Geld, ich denke ja, da muss auch noch jemand mitgemacht haben, in Chemnitz, beim Gewerbeamt. Denn die waren ja eigentlich zuständig für unser Geschäft ... Denk doch mal, direkt vor der Nase von diesem Schmidt. Dem Bürgermeister. Supernazi. Judenhasser... Wirklich gefährlich für jeden, der uns geholfen hat. Hast Du eine Ahnung, wer das hätte sein können?
A ...und in In Brüssel immer weiter Gefahr. Bis wir auf der Westerland standen ....durch die Hadassah ... Februar 1940. Nur zwei, drei Monate später, und die Nazis hätten uns wieder erwischt ...
A Weisst Du noch - die Freiheitsstatue ... New York ... eine Erlösung
E Siehst Du, fühlst Dich schon besser.
E Musst ans Positive denken .... Jetzt sind wir in Sicherheit.
A Hast auch recht ... So ein schöner Tag.
A Schon fünf Jahre verheiratet ... Weisst Du noch, die Hochzeit? Siegmar. ... Meine Mutter lebte da noch ...
(Pause)
A Endlich Sicherheit. Eigentlich könnten wir jetzt an ein Baby denken... haben so lange warten müssen ...
(Pause . Sie lehnt sich ein bisschen mehr an ihn an.)
E ... Du, ich glaub', es ist schon was unterwegs ...