2 Familie Alfred Ascher, Antrag an Linse, 600 RM freizustellen

 

Am 19. April 1939 - Aschers Flucht nach Belgien ist gelungen - geht bei der IHK Chemnitz ein handschriftlicher Brief aus Brüssel von Herrn Alfred Ascher für Herrn Dr. Linse ein (2a). Der Brief zeigt eindeutig die Schriftzüge von Frau Edith, ist aber für Herrn Ascher geschrieben. Dieser ersucht, von dem in der Naziverwaltung zurückbehaltenen Guthaben seines früheren Geschäftes, 600 RM freizustellen – das Geld werde für den Lebensunterhalt seiner Eltern (!) benötigt.

Linse bemüht sich und weist in der Korrespondenz zwischen den Ämtern immer wieder auf den Verwendungszweck des Geldes hin (2b). Sogar eine Zahlung in monatlichen Raten (!) wäre angenehm. Schliesslich wird der Antrag genehmigt und am 17. Mai 1939 richtet Linse einen diesbezüglichen Brief an Alfred Ascher in Brüssel  (2c)  -- und den muss man schon lesen, um die Sachlage zu verstehen. Es steht da:

“… Betrag … zu Ihren Gunsten … der Commerz- und Privatbank überwiesen worden ist …. da eine unmittelbare Auszahlung an Ihre Eltern mangels Nachweises einer entsprechenden Empfangsberech- tigung nicht möglich war ...”

Was soll denn das bedeuten, fragt man sich.

Die Antwort ist einfach: Alfred Aschers Eltern waren beide schon tot (siehe Auszug aus dem Register des Jüdischen Friedhofes Chemnitz* 2d). Die Formulierung in Linses Brief lässt auch erkennen, dass er es wusste. Linse konnte aber nicht in die Akten schreiben, dass er die Nazi-Behörden hintergangen hat. Ich nehme an, Linse ahnte, dass Aschers in Brüssel, wie viele jüdische Flüchtlinge in dieser Zeit, dringend Geld brauchten. Sie durften ja nur zehn Mark mit sich führen. Wieder hat Linse geholfen.

Ein Historiker der Commerzbank schrieb mir dazu, dass es für jemanden in Brüssel damals prinzipiell möglich** war, Zugang zum eigenen Geld in einer Chemnitzer Bank zu haben. Es mag umständlich gewesen sein, wegen der Einschränkungen im Devisenverkehr, aber nicht unmöglich. (2e)

Wer sehen möchte, kann sehen: Der Brief (2b) von der IHK an den Oberbürgermeister (ein grosser Nazi)  ist mit "Heil Hitler" unterzeichnet. Im Brief von Linse an Herrn Ascher (2c) fehlt dieser "stolze" Nazi Gruss. Wieder ein Hinweis, wo Linse steht?

Wäre Linse ein "getreuer Nazi" gewesen, hätte er, früher oder später, das Reichfinanz-ministerium benachrichtigt, dass der "Chemnitzer Jude" Ascher im Ausland weilt und dass deshalb dieses Guthaben zugunsten des Reiches eingezogen werden könnte. Ein solches Schreiben von Linse ist NICHT bekannt. Im Gegenteil, er hat versucht, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, das Guthaben für Herrn Ascher zugänglich zu machen. Das ist am Ende wahrscheinlich, wegen der Einschränkungen im Devisenverkehr, nicht geglückt.  Später hat nämlich das US Aussenministerium (damals noch neutral) das Deutsche Reich informiert, dass Herr Ascher  US Staatsbürgerschaft beantragt habe, woraufhin das deutsche Aussenministerium das Finanzamt erinnert hat, das Vermögen zu beschlagnahmen. Diese Entwicklung mindert aber nicht den riskanten Einsatz von Walter Linse, Aschers zu unterstützen.

Offensichtlich hat Dr. Linse versucht, den Aschers zu helfen. Obendrein zeigt das Beispiel, dass man den Akten in der IHK eben nicht einfach glauben kann, wenn man die Wahrheit über Dr. Linse sucht. Es hilft, auch zwischen den Zeilen und anderswo zu lesen.

Man muss annehmen, dass Aschers und Linse diesen Antrag vorher irgendwie besprochen haben, telefonisch, oder über einen Mittelsmann (Herr Lantzsch ? - siehe Punkt 3). Wahrscheinlich hat Linse auch eine Person im Gewerbeamt mit ins Vertrauen gezogen. Für die Beteiligten war dies ein echtes Risiko, weil alle gegen das Nazi-Regime gehandelt haben. Liebe Freunde, das waren Helden.

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* Aus "Juden in Chemnitz" von Nitsche und Roecher
** Ein weiteres Beispiel, wie  ein Flüchtling in Brüssel Geld aus Chemnitz empfangen hat, findet man wieder in "Juden in Chemnitz" von Nitsche und Roecher, Seite 436.

2a Handschriftlicher Brief von Aschers aus Brüssel, an Dr. Linse, IHK, Chemnitz (16. April 1939)

Tochter Sonia Ascher erkannte die Handschrift ihrer Mutter Edith, an einem markanten "E".Offenbar hat Frau Ascher fuer Ihren Mann geschrieben und auch unterschrieben.

2b    Brief von Linse an das Gerwerbeamt, mit der Bitte um Freistellung der 600 RM für den Lebensunterhalt von Herrn Aschers Eltern.(25. April 1939)

Das Gewerbeamt ist dem Oberbürgermeister, einem grossen Nazi, unterstellt. Man beachte, wie vorsichtig Linse dem anderen Amt anheim stellt, ob der gesamte Betrag zur Verfügung stehe, vielleicht auch nur ratenweise (!!!). Auch muss ein solcher Brief mit "Heil Hitler" unterschrieben werden.

for doc 2b ascher linse ihk to mayor apr 25 1939

2c Brief von Linse, IHK, an A. Ascher in Brüssel (17. Mai 1939)

 

mit der Nachricht, dass der Antrag genehmigt wurde und dass das Geld auf  Aschers Konto bei der Commerzbank geschickt wurde, weil es nicht möglich  gewesen sei, von den Eltern eine Empfangsbestätigung zu erhalten.  (Die waren schon gestorben. Beachten Sie, wie Linse diesen Umstand verschweigt, doch den Wissenden verstehen lässt, dass er, Linse, die Wahrheit weiss.)

Es ist auch interessant, dass dieser Brief, obwohl doch von einem offiziellen Amt geschickt, NICHT mit "Heil Hitler" endet.

for doc 2c confirmation linse to ascher may 17, 1939

2d Auszug aus dem Register des Jüdischen Friedhofes in Chemnitz

 

Aus dem Buch "Juden in Chemnitz" von Nitsche und Roecher, Sandstein Verlag Dresden, 2002. (Ein ausgezeichnetes Werk, siehe Literatur)

Die Eltern von Alfred Ascher findet man als 31 und 35 auf Seite 442. Deren Namen erscheinen auch auf Herrn Alfred Aschers Dokument (doc 1c). Man sieht die Geburts- und Todesdaten, und diese wurden wiederum von Sonia Ascher bestätigt.

Es besteht also kein Zweifel über die Umstände der Freistellung des gesperrten Geldes. Linse und vielleicht andere Mitwisser haben die Nazi-Staatsmacht belogen, um den beiden geflohenen Chemnitzer Juden, die in Not  waren, Zugang zu deren Geld zu verschaffen.

for doc 2d 1938 excerpt cemetary list

2e Hatten Aschers eine Chance, ihr Geld in Brüssel zu bekommen?

 

Mit dieser Frage habe ich mich 2008 an das Historische Archiv der Commerzbank AG gewandt, der Nachfolge-Organisation der Commerz und Privatbank Chemnitz. Hier sind Auszüge aus der Korrespondenz:

(1) Antwort von der Commerzbank AG, Frankfurt, auszugsweise

RE: Commerz- und Privatbank Chemnitz, 1939

Sehr geehrter Herr Seifert,

Ihre Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Prinzipiell gab es einen internationalen Zahlungsverkehr mit der Möglichkeit zum Kapitaltransfer.  Allerdings hat der Staat in den dreißiger Jahren die Vorschriften zur Devisenbewirtschaftung und zur sog. Vermeidung von Kapitalflucht immer enger gefasst.  Genehmigungen für Kapitaltransfers dauerten immer länger und der Staat verlangte immer höhere Abgaben. Wie die Devisenstellen im Einzelfall entschieden, entzieht sich meiner Kenntnis.

Der offizielle Devisenkurs in Berlin lautete 1939:

                                100 Reichsmark = 42,28 belgische Belgas.

Mit freundlichen Grüßen
Commerzbank AG
Historisches Archiv

(2)  Meine Anfrage an die Commerzbank AG, Frankfurt, auszugsweise

An: Commerzbank AG
Historisches Archiv
22. April, 2008
Betr.: Commerz- und Privatbank Chemnitz, 1939

Sehr geehrte Damen und Herren:
Auf der Webseite der Commerzbank AG habe ich Ihre Abteilung gefunden und ahne schon, dass es für 1939, Chemnitz, wahrscheinlich keine Archivbestände gibt. Vielleicht können Sie mir aber mit einer generellen Auskunft weiterhelfen:

Wenn jemand im Mai 1939 ein kleines Guthaben bei der Commerz- und Privatbank Chemnitz hatte, wäre es für diese Person möglich gewesen, in einer Bank in Brüssel vorzusprechen und dort Geld abzuheben? Gab es damals schon eine Commerz- und Privatbank in Brüssel oder eine Bankverbindung, vielleicht schon die Hansabank N.V.? Oder konnte man gar bei jeglicher Bank in Brüssel beantragen, dass das Chemnitzer Guthaben dahin überwiesen werde?

Und, was war denn der ungefähre Kurs, um RM in Belgische Währung, oder Dollars zu wechseln? eine lange Geschichte. Es geht um die Ehre eines Mannes, meines Onkels, “God bless his soul”. Ich kann gerne mehr dazu schreiben, möchte mich aber erst einmal kurz fassen.
Vielen Dank schon im voraus, dass Sie sich meiner Fragen annehmen.

Freundliche Gruesse!
Ihr Peter Seifert

2f Geld für einen anderen Flüchtling nach Brüssel überwiesen

 

Hier ist ein weiteres Beispiel, dass Geld für jemanden in Brüssel hinterlegt worden war. Es deutet an, dass solch eine Transaktion prinzipiell möglich war, etwa in derselben Zeit, als auch Aschers dort temporäre Zuflucht gefunden hatten.

In "Juden in Chemnitz" (Seite 436,  siehe Literatur) berichtet Manfred Hillmann, wie er, seine Geschwister und Eltern nach Polen ausgewiesen wurden. Danach, während er im KZ Buchenwald war (Mai 1940)  " ... wurden in Brüssel  für ihn 400 $  für eine mögliche Auswanderung nach Schanghai, ... , hinterlegt. Manfred H. blieb allerdings bis Frühjahr 1942 in diesem Lager. ... Seine Eltern bemühten sich, ihn in dieser Zeit zu unterstützen. Mit Genehmigung der Devisenstelle Chemnitz wurde ihm von ihrem Ausländersperrkonto monatlich eine kleine Geldsumme überwiesen. Diese Hilfe hörte jedoch wenige Monate später auf und der Kontakt brach gänzlich ab."

Wir wollen nicht vergessen, dass Manfred Hillmann die gesamte Zeit von 1940 bis 1945 in verschiedenen Konzentrationslagern unter schwersten Umständen verbringen musste, auch in Auschwitz. Irgendwie hat er selbst dies alles überlebt, ist nach der Befreiung durch die Amerikaner von Thüringen nach Frankfurt gegangen, und später in die USA ausgewandert. Es ist kaum zu fassen, dass seine Eltern und seine zwei Brüder in Vernichtungslagern umgebracht worden sind.

"Es ist kaum zu glauben, aber ich habe Manfred Hillmann etwa 1975 persönlich bei einem Servicebesuch in einer kleinen Papierfabrik in Ohio getroffen. Anderen Angestellten war dort aufgefallen, dass mein Akzent etwa so klang, wie der dieses Mannes, "Fred". (Kein Wunder - wir stammten beide aus Chemnitz, wie festgestellt wurde). Damals jedoch waren mir die entsetzlichen Geschehnisse der Nazizeit längst nicht so gegenwärtig wie heute. Er fragte mich nur, ob ich die Kristallnacht kenne. Meine Antwort in etwa "ja, es war 1938, ich war damals zwei Jahre alt, hatte nichts damit zu tun" . Daraufhin drehte er sich um und ging schweigend weg. Als ich ihn viel später wieder finden wollte, war er gerade gestorben."

 

2g  1941  Aschers' Guthaben verfällt an das Reich, aber nicht durch Linse.

 

Dokumente vom Finanzamt Moabit Berlin deuten darauf hin, dass Aschers wahrscheinlich das Geld doch nicht bekommen haben. Das Schreiben verweist auf eine "Bekanntmachung" vom 3. Februar 1940, veröffentlicht  im Reichsanzeiger am 6. Februar 1941: Herr Alfred Isreal Ascher sei am 3. Februar 1940  ohne Vermögensbeschlagnahme ausgebürgert worden.

Der Verfasser des Dokumentes habe selbst nachgeforscht und ein Bankguthaben von 893.70 RM bei der Commerzbank, Filiale Chemnitz gefunden. Dieses müsse nun an das Reich verfallen.

Es liegt nahe, anzunehmen, dass es sich hier um das Guthaben von Aschers handelt, das Dr. Linse für Herrn Ascher freigestellt hatte. Es kann aber auch ein weiteres Guthaben gewesen sein, denn es ist nicht mehr feststellbar, ob Aschers die 600 RM in Brüssel erhalten hatten, oder nicht.

Man beachte, dass das Datum der "Bekanntmachung" (3. Februar 1940) identisch ist mit dem der Ankunft der SS Westernland (auf der Aschers an diesem Tag in New York ankamen).  Offenbar bestand immer noch eine Verbindung von der USA Immigrations Behörde nach Deutschland, durch die Deutschland offiziell informiert wurde, dass ein Deutscher, Herr Ascher, US Staatsbürgerschaft beantragt oder erhalten hat. Es herrschte noch kein Krieg zwischen diesen Staaten, die USA waren noch "neutral".

Wichtig ist, dass es NICHT Walter Linse war, der die Nazi Regierung darauf aufmerksam machte, dass noch ein Ascher-Guthaben bei der Commerzbank weilte. Zum einen, woher sollte Linse das Ankunftsdatum von Aschers Schiff in New York wissen? Auch fehlt entsprechende Korrespondenz zwischen der IHK und dem Finanzamt Moabit. Schliesslich nimmt der Schreiber des Moabit-Dokumentes für sich in Anspruch, das Guthaben selbst gefunden zu haben.

Vielleicht ist also Linses Hilfe misglückt - aber er hat  riskiert, mit einer Lüge gegenüber der Naziherrschaft, Aschers zu helfen. In diesen Zeiten sind viele Akte des Widerstandes ohne Erfolg geblieben - und dennoch erkennt man Mut, Willen, und Tat an. Auch Walter Linse's.

Man beachte auch, dass Linse bereits im April 1939 wusste, dass Aschers nach Belgien geflüchtet waren. Wäre Linse dem Reich gegenüber nicht verpflichtet gewesen, Aschers' verbleibendes Vermögen zu melden und/oder dessen Einzug zugunsten des Reiches zu  veranlassen? Jedoch, Linse hat genau das Gegenteil eingeleitet : Er hat dem Reich das Vermögen verschwiegen und statt dessen  Aschers informiert wo das Geld für sie lagerte.