9 Die Familie   

Unsere engere Familie bestand aus einem Seifert- und einem Chemnitzer Heymann-Teil. Dr. Walter Linse hat 1942 Helga Heymann geheiratet, die Schwester meiner Mutter. Deren Eltern, meine Grosseltern, waren Stadtrechtsrat Dr. jur. Albert Heymann und Frau Elly.  Bei Linses Hochzeit durfte ich, sechsjährig, mitfahren:

“Onkel Wälti” galt bei uns als sehr kluger “Intellektueller”. Er hat das Eigentum  anderer respektiert und selbst in meinem Beisein mit Achtung und Anerkennung von “Industriellen” gesprochen, obwohl selbst nie reich. Auf keinen Fall war Walter Linse als NS Partei-Ideologe, NS-Täter, oder Antisemit bekannt. Einen Nazi hätte Helga Heymann nicht geheiratet. Das Gebaren und Denken der Nazis wurde in unserer Familie verachtet. Verständlicherweise gibt es darüber jedoch keine Dokumente.         

Sie waren beide “vernünftige, gebildete” Leute. Wältis Ernst und Helgas Frohsinn haben sich sicher gut ergänzt. Die Heirat war kein Karriereschritt für Linse. Heymanns waren dafür nicht in der “richtigen” Partei. Auch war da kein Vermögen, das vielleicht beim Abzahlen von Wältis Schulden an seine Eltern geholfen hätte. Ich denke, die Ehe hat meinen etwas trockenen, arbeitsamen Onkel aufgemuntert und gelockert. Aber warum hat Helga den viel (elf Jahre) älteren Herrn so geschätzt ?

Das Bild des Mannes, wie es in unserer Familie bestand, deckt sich mit den Berichten in dieser Webseite: Walter Linse hat positiv gewirkt, mit einem Sinn für Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Er hat viele Unterdrückte geschützt und ihnen geholfen, wo er konnte, vor und nach 1945. Man braucht in ihm nicht eine reuevolle Besinnung oder Umkehr am 8. Mai 1945 zu suchen - wobei er "vorher Existenzen und Menschen vernichtet habe" und nun "alles wieder gut machen möchte" - wie manchmal vorgeschlagen wird. Vielmehr tat er dasselbe, vorher und nachher. Heimlich und getarnt, menschlich, und selbst in Gefahr. Vielleicht war es gerade diese Besonderheit, die Helga an ihm bewundert hat. 

Hätte er ins Ausland fliehen sollen oder können?  Hätten dann die Opfer der "Entjudung" noch mehr unter der NS Willkür gelitten? Vielleicht sah er gerade seine Aufgabe darin, etwas Schutz und Hilfe zu gewähren, wo es sonst keine gab. Vielleicht waren seine IHK-Akten und Lippenbekenntnisse einfach seine Tarnung.

Meine eigene Erfahrung in der DDR spielt hier hinein: Vierzehnjährig hatte ich mich 1950 in meiner Thüringer Internatsschule für die Oberschule beworben. Irgendwie hatte ich es bis dahin vermieden, den “Jungen Pionieren” beizutreten. Für mich ähnelten sie den Pimpfen der HJ, deren Marschübungen und Geschichten von Rohheiten mich abgeschreckt hatten. Jedoch, mein Klassenlehrer, zu dem ich Vertrauen hatte, erklärte mir damals unter vier Augen: Peter, wenn Du nicht Mitglied der FDJ wirst, kannst Du die Oberschule vergessen . Natürlich gibt es über das Gespräch keine Dokumentation. Ich bin einfach beigetreten, ohne meine Eltern zu fragen. Später, in Chemnitz, habe mich geschämt, dass ich an FDJ Aktivitäten teinehmen, und 1954 das FDJ Blauhemd zum Abitur tragen musste. Jedoch wurde ich - fast unerwartet - dadurch zum Studium an der TH in Dresden zugelassen.

Dort wurde ich 1955 wiederum konfrontiert, diesmal um mich für die GST und die SED zu gewinnen. Das Gespräch endete wieder einfach: Peter, ...wenn Du nicht beitrittst, musst Du Dich vielleicht erst ein paar Jahre in der Industrie (sprich Wismut-Uranbergbau) bewähren. Wieder keine Dokumentation. Jedoch habe ich diesmal mit meinen Eltern gesprochen und die Flucht aus der DDR gewagt. Beim ersten Mal (FDJ) habe ich gewählt, an der Oberfläche mitzumachen; beim zweiten Mal (SED, GST) - die Flucht.

Für diejenigen, die so etwas nicht selbst erfahren haben : Das sind Umstände die Beitritt zur totalitären Staatspartei erzwingen können. So, oder ähnlich, denke ich, ist es auch Walter Linse ergangen als er 1940, Aufnahme in die NSDAP beantragen musste: "...Linse, wenn Sie nicht der Partei beitreten, sind Sie hier nicht mehr tragbar... bedenken Sie, es ist jetzt Krieg. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns..."  Jedoch, wie wir jetzt wissen, ist es bei dem Antrag geblieben - die Mitgliedschaft hat nie begonnen  (siehe Kapitel 8).

Hat er Linse von seiner Arbeit profitiert? Er hat Gehalt bezogen, bei der IHK und auch bei dem UfJ, aber das muss bescheiden gewesen sein. In Chemnitz, etwa 1947 hörte ich ihn hinsichtlich seines Verdienstes bemerken: “…ach, heutzutage müsste man Fliessenleger sein….” Die waren im zerstörten Chemnitz stark gesucht und gut bezahlt. Und bei meinem Besuch in West-Berlin, 1951, war es eine Geldfrage, ob man mich (15-jährig)  zu einem Eisbecher am Ku-Damm einladen konnte. Linses hatten kein Geld und nur sehr wenig Zeit für mich. Aber der Onkel zeigte mir einen der ersten Selbstbedienungsläden und erklärte mir den grossen Anreiz  für die Kunden, Ware einfach zu greifen und in den Korb zu legen ... und dadurch mehr zu kaufen ...

Bei diesem Besuch in West-Berlin nahm mich Tante Helga in ihr Vertrauen: Wälti sei in Gefahr und er sei gewarnt worden. Er habe aber den dann  angebotenen Polizeischutz abgelehnt, denn "er wolle nicht [mehr] in Furcht leben". Diese Begründung bezog sich zweifellos auf sein Leben vorher, in den zwei Diktaturen.  (Diese Warnung wurde mir 60 Jahre später im Gespräch mit einer früheren IHK-Sekretärin bestätigt. Sie hatte um 1940 zeitweise für Linse gearbeitet - und wusste über solche Dinge um 1950 in der DDR  "Bescheid". Siehe Kapitel 6e).

Ich verstehe schon, dass ich wegen meiner Verwandtschaft und des persönlichen Kontaktes mit Dr. Linse als voreingenommen gelte - ungeachtet meiner Versicherung, dass ich jedes Urteil (auch eine Schuld) über ihn akzeptieren kann, solange wirkliche Beweise vorliegen, die über meine Zweifel erhaben sind. Bis jetzt hat mich noch niemand von der hier vorgetragenen Bewertung abbringen können. Auch nicht Dr. Benno Kirsch, mit dem ich viele Jahre an diesem Thema zusammengearbeitet habe.

Durch meine Verwandtschaft mit Dr. Linse weiss ich auch vom Gespräch mit ihm persönlich, dass er die Unternehmerschaft, die "Industriellen", ehrlich bewunderte. Namlich deren Mut Risiken einzugehen, um am Ende Gewinn zu erzielen, und dabei die gesamte Wirtschaft anzutreiben. Ich denke heute, seine Bewunderung galt auch den jüdischen Geschäftsleuten (im Widerspruch zu den Nazis) - wie in vielen Beispielen in Kapitel 6 erkenntlich. 

Viele andere Menschen, die ihn auch noch persönlich kannten, haben Dr. Walter Linse nach der Wende geehrt, in Publikationen und auch privat. Wie diese gesamte Internetseite zeigt, ist und war er ihrer Anerkennung würdig. Diesen Freunden sei an dieser Stelle von Herzen gedankt.

Peter Seifert