4 Gilel Reiter wurde fünf Jahre lang von
Linse unterstützt  (siehe Benno Kirsch)

 

Autor Dr. Benno Kirsch hat in seinem Buch (2007, Seiten 27 bis 38, (doc 4a)) das Schicksal des jüdischen Ingenieurs und Erfinders Gilel Reiter ausführlich bechrieben. Er detailliert auch, wie sich Dr. Linse (in Zusammenarbeit mit dem Treuhänder Sieben-Hausen) zwischen 1938 und 1943 immer wieder erfolgreich eingesetzt hat, Gilel Reiter vor der Deportation zu bewahren. In den IHK Akten und Anträgen schreibt Linse immer davon, wie wichtig Reiters Erfindungen und Fachkenntnis für die Rüstungsindustrie sind. Deshalb müsse Reiter weiterhin persönlich zur Verfügung stehen.

Linse und Sieben-Hausen haben auch versucht, Herrn Reiter von der Pflicht zu befreien, den Judenstern zu tragen, und ihm weitere Arbeit als Dolmetscher für russische Zwangsarbeiter zu finden. Diese Anträge wurden aber abgelehnt. In einem anderen Fall  wurde Linses helfende Empfehlung von den IHK Vorgesetzten abgeschwächt. (doc 4b).

Man könnte nun annehmen, dass sich weder Gilel Reiter noch Walter Linse hätten bemühen müssen, war doch Herr Reiter durch seine Ehe mit einer arischen Frau sowieso vor Deportation und Vernichtung geschützt. Vielleicht beweist heute gar die Statistik, dass solche jüdische Männer bessere Chancen hatten, den Holocaust zu überleben, als die mit Jüdinnen verheirateten. Es wäre aber ein grober Fehler, von dieser Statistik von heute auf einen Einzelfall zwischen 1938 bis 1945  zurückzuschliessen. Zum einen war die Statistik damals nicht bekannt und zum anderen herrschte eine solche Unsicherheit in diesen Fragen, dass sich weder Reiter noch Linse auf solchen Schutz verlassen konnten. Eine Fehleinschätzung hätte den Tod bedeuten können - hier gilt das Urteil der selbst Betroffenen.

Dass Linse, nach all seinen Bemühungen Reiter zu schützen, diesen Mann an die Gestapo “denunziert” haben soll, ist schlicht Unsinn. Gilel Reiter ist viel gereist, um seine Erfindungen an (Rüstungs-) Betriebe zu verkaufen. Es war zu seinem Vorteil, dass die Gestapo von diesen Reisen wusste. Vielleicht besass er gar eine Kopie von Linses Brief, mit der er sich bei Kontrollen ausweisen und rechtfertigen konnte.

Mit Linse's Hilfe ist es  Herrn G. Reiter fünf Jahre lang (1938 bis 1943) gelungen, unter schwersten und adversen Umständen, wie man sie sich heute kaum vorstellen kann, zu überleben. Jedoch er erlag am 18. Februar 1944 den Spätfolgen der Misshandlungen, die er in Buchenwald erlitten hat. Mehr dazu in meinem Gespräch mit dem Sohn Joachim Reiter (doc 4c).

Während Herr Sieben-Hausen vielleicht von seiner Tätigkeit als Treuhänder materiellen Vorteil gewonnen hat, kann man das von Linse nicht feststellen. Linse hat einfach menschlich gehandelt, wo er konnte. Leider ist Herr G. Reiter während der Nazi-Hölle gestorben - trotzdem muss man Linses vieljährigen Einsatz für ihn anerkennen. 

4a Familie Gilel Reiter

In seinem Buch über Walter Linse (2007) hat Dr. Benno Kirsch ausführlich berichtet, wie sich Dr.Linse für Gilel Reiter eingesetzt hat.   

Das Buch ist erhältlich bei
Stiftung Sächsische Gedenkstätten,
PDF kostenfrei
(Siehe auch "Ausgewählte Literatur")
     ISBN 978-3-934382-19-0
     Autor:  Dr. Benno Kirsch
     Titel:    Walter Linse 1903  -  1953  -  1996
Preis:   unter 10 Euro, PDF Kostenfrei

Siehe besonders  Teil III  des Buches (Seiten 27 bis 38)

Wir sind Herrn Dr. Benno Kirsch sehr dankbar für seine Aufmerksamkeit und Sorgfalt bei der Durchsicht der Linse-Akten und für die genaue Darstellung des Verlaufes der fortwährenden Unterstützung von Linse für Herrn Reiter.

4b Herr Gilel Reiter weiterhin benötigt (1939 bis 1943)

Auf den folgenden Seiten sieht man zwei Dokumente (1), (2) von der IHK, Dr. Linse. Sie werden bei Kirsch, Seiten 31 bis 38 ausführlich besprochen. Kirsch's genaue Analyse erlaubt, Linse's wirkliche Absichten, sowie auch den Widerstand, den das Nazi-System ihm entgegensetzt, zu verstehen. Aber, Nazi-Vorgesetzte lassen da nicht durchgehen. Linse muss die erste Fassung (1) ändern, die Hilfe für Reiter vermindern, damit die Antwort keine Kritik enthält. Linse muss sich tarnen. Fassung (2) wird dann abgeschickt.. 

(1)   Das Polizeipräsidium muss wiederholt die Aufenthaltsgenehmigung für Reiter verlängern. Auf Anfrage des Polizeipräsidenten verfasst Linse eine erste Antwort, in der er "sanft" andeutet, dass Reiter weiterhin benötigt wird. Das wäre eine grosse Hilfe für Reiter gewesen. Diese Antwort wurde aber nicht abgeschickt. Diese erste Fassung, mit Briefkopf, ging in die Akten. (Vorder- und Rückseite, siehe unten)

(2)   Linse muss die Antwort korrigieren, bevor beide Chefs unterschreiben. In der zweiten Fassung wird die Notwendigkeit von Reiters Einsatz-Erlaubniss stark abgeschwächt und auf zwei Monate befristet. Der generelle Mangel an Ingenieuren und Fachkräften wird gar nicht mehr erwähnt, solche Bemerkungen sind unerwuenscht. Diesmal ist nur der Durchschlag in den Akten.

Beide Schreiben zeigen die grosse Vorsicht der IHK gegenüber dem Polizeipräsidium (oder der nächsten Instanz) zum Thema, ob die Hilfe eines Juden notwendig oder gar vorteilhaft sein  könnte.

b 4b reiter wird benoetigt 1a
b 4b reiter wird benoetigt 1b

2) Vom revidierten Brief (s. unten) ist nur der Durchschlag bei den Akten, was anzeigt, dass das Original, mit Briefkopf abgeschickt worden war. Im Gegensatz, oben   ist  Papier mit Briefkopf (1) in den Akten, wurde also nicht abgeschickt.

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z 4b reiter wird benoetigt 2b

4c Mein (Peter Seifert) Besuch bei Herrn Joachim Reiter,
Sohn von Herrn Gilel Reiter

Bei meinem Besuch in Berlin, am 10. Juli 2008, hat mir Gilel Reiters Sohn, Herr Joachim Reiter, seine Geschichte erzählt und mir erlaubt, hier davon zu berichten:

Aus erster Ehe hatte Vater Gilel Reiter zwei Söhne (Samuel und Anatol). Frau Reiter starb jedoch in den 1920-er Jahren. Gilel heiratete wieder, etwa 1928 – diesmal eine arische Frau. Drei Söhne wurden 1929, 1930 und 1942 in Chemnitz geboren, der mittlere ist Joachim (Diplomingenieur, Maschinenbau, i.R.), mein Gesprächspartner; er lebt schon lange in Berlin.

Seine Mutter ist etwa 1931 zum Judentum übergetreten, wahrscheinlich  aus Respekt für die beiden Söhne aus der ersten Ehe, aber ihre genauen Bewegründe kenne ich nicht.

Joachim und sein älterer Bruder besuchten die Andreschule auf dem Kassberg, einer vornehmen Wohngegend in Chemnitz. Bald wurden sie jedoch ausge-schlossen und mussten in eine Judenschule gehen. Auch das hörte auf; jüdische Kinder durften gar nicht mehr öffentlich unterrichtet werden. Obendrein musste die Familie ihre schöne geräumige Wohnung verlassen und ins Judenhaus, Apollostrasse 18, ziehen.

Es kam noch viel schlimmer: In der Reichskristallnacht 1938 wurde Gilel Reiter verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht. Dort wurde er schwer mishandelt, geschlagen. Vielleicht war er eines der Opfer, von denen Herr Ascher (doc 1a) mit Grauen berichtet. Wir wissen nicht genau, warum Gilel wieder entlassen wurde, vielleicht weil wichtig für die Rüstung, vielleicht weil durch die Prügelung zu schwer verletzt – Nierenschäden. Vielleicht war es der Einsatz von Linse und/oder Sieben-Hausen.

Für Herrn Reiters Geschäft (Vertrieb und Unterstützung seiner Erfindung) wurde ein arischer Treuhänder, Herr Sieben-Hausen eingesetzt. Joachim erinnert sich an diesen Herrn, der sogar manchmal die Wohnung besuchte, nicht aber an Dr. Linse. Von ihm hörte Joachim Reiter erst durch Benno Kirschs Buch.

Herr Gilel Reiter, damals etwa 60-jährig, muss wie ein Löwe gekämpft haben, für die Existenz der Familie, fürs Überleben, gegen die Deportation, für seine Erfindungen und deren Vermarktung, in einem Umfeld wo er als Jude unerwünscht war. Irgendwie überlebte die Familie die Jahre von 1938 bis Februar 1944, als Herr Reiter schliesslich an Nierenversagen starb. Er hätte sicher durch Behandlung oder eine Operation gerettet werden können, jedoch fand sich kein Arzt, der dem Juden helfen wollte oder konnte. Joachim erinnert sich, wie er und sein Bruder den Leichnam auf einem Schlitten zum Krematorium zogen. Die Urne wurde später auf dem jüdischen Friedhof in Chemnitz beigesetzt.

Auch nachdem der jüdische Vater gestorben war, gab es keinen Schutz für die Familie durch die urspruenglich arische Mutter. Sie blieben weiterhin im Judenhaus, bis am 15. Februar 1945 Joachim und sein älterer Bruder (etwa 14 und 15 jährig) abgeholt und mit vielen anderen Jugendlichen in Viehwagen ins KZ Theresienstadt gebracht wurden. Das Lager wurde im April durch die Sowjetarmee befreit. Die beiden Brüder schlüpften dann aus der Typhus-Quarantäne hinaus, schlugen sich nach Chemnitz und Zwickau durch und fanden dort die Mutter wieder. Die weitere Geschichte ist noch länger und ebenso schwer, aber sei hier beendet. Sie zeigt, es gab in der Nazi-Zeit keinen verlässlichen oder glaubhaften Schutz für diese Familie Reiter, auch nicht durch die arische Mutter -- eine qualvolle Zeit auch für sie.

Ich danke Herrn Joachim Reiter für sein Vertrauen und seine Offenheit. Er hat mir erlaubt, davon zu berichten. Ähnlich wie mit Frau Ascher fühle ich mich mit ihm und seinem Schicksal eng verbunden.

Zurück zu Dr. Linse: Seine Handlungen haben bestimmt beigetragen, die Familie Gilel Reiter für viele Jahre (1939 bis 1943) zu schützen. Es lohnt sich wirklich, die  betreffenden Seiten in Dr. Benno Kirschs Buch (2007) zu lesen, um einen Eindruck zu gewinnen, wie oft sich Linse und Sieben-Hausen bemüht haben, und wie vorsichtig sie sein mussten, um keinen Verdacht auf sich zu lenken.